Radikaler Respekt? Überlegungen zu Emotionen in Pädagogik und politischer Bildung am Beispiel von antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus
3. Februar 2020 | Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention

Symbolbild: Hände; Bild: Ian Dooley/ unsplash.com

Wut und Aggressionen sind Emotionen, die unter Jugendlichen zu antimuslimischem Rassismus und israelbezogenem Antisemitismus führen können. Dass es pädagogisch zielführend sein kann, problematische Äußerungen von Jugendlichen nach ihrer Motivlage zu ergründen, zeigt ufuq.de Co-Geschäftsführer Dr. Jochen Müller in diesem Beitrag aus der Zeitschriftenreihe Ligante der BAG RelEx [1]. Darin plädiert er für eine vermehrte Berücksichtigung von Emotionen in der politischen Bildungsarbeit und warnt davor, das Feld der Emotionen den Ideologien zu überlassen.

Ziel der folgenden Überlegungen ist es, Provokationen und ideologisch begründete Positionen von Jugendlichen auf ihre gemeinsame emotionale Motivlage zu befragen. Als Beispiel für gegenwärtig virulente Provokationen und Ideologien, derer sich auch Jugendliche bedienen, werden der israelbezogene Antisemitismus und der antimuslimische Rassismus herangezogen. Zunächst soll daran erinnert werden, dass gesellschaftliche Entwicklungen und individuelle Erfahrungen Emotionen hervorrufen und diese in Reaktionen münden, die bis zu ideologisch begründetem Denken und Handeln reichen können. In einem zweiten Schritt werden daraus allgemeine Schlussfolgerungen für den Umgang mit Emotionen in politischer Bildung und pädagogischer Arbeit mit Jugendlichen abgeleitet.

Zunächst wird ein gemeinsamer Aspekt von antimuslimischem Rassismus (AMR) und Antisemitismus (AS) hervorgehoben: Rassismus, zitiert Shooman (2014), „ist die verallgemeinernde und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“ Und zur Beschreibung von Antisemitismus formulierten Horkheimer und Adorno (1944): „Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechnet, ist die Sanktionierung [hier: Bestätigung, Anm. d. Verf.] seiner Wut durch das Kollektiv“ [2]. Die Zitate weisen auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten von AMR und AS hin [3]. Der hier aus pädagogischer Perspektive besonders relevante, beiden Ideologien gemeinsame Aspekt betrifft die Nachfrageseite: Welche Motivlagen führen dazu, dass einzelnen Jugendlichen ideologisch geprägte Positionen und Provokationen attraktiv erscheinen können? In den zitierten Formulierungen von Shooman (2014) sowie Horkheimer und Adorno (1944) finden sich erste Antworten dazu: Von Emotionen ist da die Rede, nämlich von Wut und Aggressionen. Aber warum hilft es vielen Menschen offenbar, andere als minderwertige und feindliche Gruppen zu konstruieren? Und woher kommen eigentlich Wut und Aggressionen?

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschriftenreihe Ligante der Bundesarbeitsgemeinschaft religiöser Extremismus. Die Ausgabe „Für Volk und Glaube? Die extreme Rechte und religiös begründeter Extremismus“ kann hier heruntergeladen werden.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx, fördert und unterstützt die bundesweite Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sich für eine erfolgreiche und nachhaltige Prävention und Deradikalisierung auf dem Feld des religiös begründeten Extremismus engagieren. Die Bundesarbeitsgemeinschaft bietet eine Plattform für den Fachaustausch und unterstützt sie in der Erarbeitung und Entwicklung von Qualitätsstandards.

Erfahrungen, Emotionen, Provokationen, Ideologien

Mit dem Aufkommen sogenannter Populismen ist in den vergangenen Jahren auch die Rolle von Emotionen in der Politik vermehrt diskutiert worden. Meist geschieht das in der Absicht, populistische Politik als Propaganda zu entlarven und sie dafür zu kritisieren, Emotionen zu schüren, statt rationalen Überlegungen zu folgen. So nachvollziehbar dieser Impuls ist, wird die Frage nach der Rolle von Emotionen auf diese Weise nur in die uns seit jeher vertraute Richtung aufgelöst: Unter den Vorzeichen des Descartes’schen Postulats („Ich denke, also bin ich“) und der allgegenwärtigen Gegenüberstellung von Körper und Geist stehen Emotionen als Ausdruck von Körperlichkeit und Weiblichkeit unter Generalverdacht. Erwünscht sind demgegenüber, zumindest in Politik und Öffentlichkeit, Verstand und Rationalität. Dabei haben Emotionen in Pädagogik und politischer Bildung in den letzten Jahrzehnten eine Neubewertung erfahren, die das vorherrschende dualistische Konzept von Emotionalität und Rationalität infrage stellt. Schließlich gehen Emotionen jeder Überzeugung, Haltung oder Einstellung voraus. Es gibt keinen Gedanken, der nicht auch mit Emotionen verbunden wäre. Kurz gesagt, findet demnach keine Bewertung einer Sachlage oder Situation und auch keine daraus resultierende Positionierung oder Handlung allein aus rationaler Abwägung statt. Vielmehr sind Emotionen Teil jeder Abwägung und wesentliches Motiv nachfolgender Handlungen. Gerade in Pädagogik und politischer Bildungsarbeit ermöglichen Emotionen häufig erst inhaltliche Zugänge – zum Beispiel indem sie als authentischer Ausdruck und als Beschreibung von Erfahrungen oder subjektiven Zuständen aufgegriffen werden können (vgl. Schaal, 2019, S. 4 ff.).

In unserem Beispiel wären Wut und Aggression also zunächst als authentischer Ausdruck von Leiden oder als Reaktion auf tatsächliche oder vermeintliche Grenzverletzungen zu verstehen – sowohl situationsbedingt als auch vor dem Hintergrund gemachter Erfahrungen. Ein Beispiel: Erfahrungen wie Ausgeschlossensein, Nichtzugehörigkeit, Zurückweisung oder Verachtung aktivieren das Schmerzzentrum im Gehirn – das heißt, sie erzeugen individuellen Schmerz und gehören damit zu den wichtigsten Auslösern von Aggression [4]. Dabei stehen Reaktionen auf persönliche Verhältnisse und subjektive Erfahrungen immer auch im Kontext kollektiver beziehungsweise gesellschaftlicher Entwicklungen und Verwerfungen.

Wenn also gegenwärtig die Nachfrage nach rassistischen und antisemitischen Ideologieangeboten zunimmt (und zwar in allen Schichten, Klassen oder Milieus), dann liegt es nahe zu vermuten, dass es gesellschaftliche Entwicklungen sind, die bei vielen Menschen wesentlich zu Motivlagen beitragen, die von Wut und Aggression geprägt sind und in Ideologisierungen münden können. Dabei scheint es – entsprechend lassen sich auch die Formulierungen von Shooman (2014) sowie Horkheimer und Adorno (1944) lesen – für das Entstehen von Wut und Aggression zu einem gewissen Grad unerheblich zu sein, ob Menschen objektiv unter gesellschaftlichen Verhältnissen leiden (zum Beispiel Armut, Entfremdung, Diskriminierung) oder die Verhältnisse lediglich als krisenhaft wahrnehmen, selbst aber nicht oder nur indirekt betroffen sind. Die wachsende Attraktivität von Ideologieangeboten wie AMR und AS kann demnach als Resultat von individuell erfahrenen und interpretierten, aber nicht zuletzt gesellschaftlich bedingten Krisen und Krisenwahrnehmungen gelesen werden.

Beispielhaft lässt sich das anhand zweier ganz unterschiedlicher Erfahrungsräume illustrieren, die in Deutschland (aber nicht nur dort) seit den 80er-/90er-Jahren das Erleben und Wahrnehmen vieler Menschen prägen und die öffentlichen Diskurse zu den Motiven von anwachsendem Rassismus und Antisemitismus dominieren: die Zumutungen, die der hegemonial gewordene Neoliberalismus mit sich bringt, und die Geschichte des Konflikts um Israel und Palästina, der als Hauptmotiv eines israelbezogenen Antisemitismus gilt.

Viele Menschen leiden am und im Neoliberalismus unter anderem daran, dass sie sich im Zuge fortschreitender Technologien und kapitalistischer Durchdringung von öffentlichem und privatem Leben zunehmend abgehängt und Entwicklungen ausgeliefert fühlen, auf die sie keinerlei Einfluss haben. Für sie bedeutet Liberalisierung auch den Verlust fundamentaler Orientierungen und Bezugsrahmen, wie sie zum Beispiel normative Heterosexualität oder patriarchale Familienstrukturen, aber auch regionale oder arbeitsbezogene Bindungen vermittel(te)n. Liberalisierung geht einher mit Individualismus, Materialismus und den Zumutungen von Flexibilität und Eigenverantwortlichkeit, die an die Stelle staatlicher Netze der Reglementierung und Fürsorge sowie Erfahrungen kollektiver Absicherung und Bindung treten. All dies kann das Gefühl von Ohnmacht vermitteln, Schmerz bereiten und zum Auslöser von Wut und Aggression werden [5]. Natürlich sind diese Entwicklungen und Phänomene widersprüchlich, natürlich lassen sich nicht alle Krisenwahrnehmungen auf den Neoliberalismus zurückführen. Ebenso sind Menschen sehr unterschiedlich von ihnen betroffen und können unterschiedlich reagieren. Jedoch machen im Rahmen solcher (und anderer) gesellschaftlicher Entwicklungen ohne Zweifel viele Menschen Erfahrungen, die für sie krisenhaft sind oder die Schmerz, Leid und existenzielle Ängste verursachen.

Genauso gilt das für Geschichte und Gegenwart des Israel-Palästina-Konflikts. Auch hier sind die Wahrnehmungen, Emotionen und Überzeugungen vieler Menschen bestimmt durch konkrete historische Erfahrungen wie Flucht, Vertreibung oder Tod von Familienangehörigen. Ebenso wichtig können – auf den Konflikt projizierte – weltweite, aber eben auch tagtäglich am eigenen Leibe erfahrene koloniale und postkoloniale Unterdrückungs-, Abhängigkeits- und Diskriminierungsverhältnisse sein. Es befinden sich auch Personen darunter, die nicht direkt, beziehungsweise nur indirekt betroffen sind, die also zum Beispiel in vierter Generation in Deutschland leben und keine palästinensische Herkunft haben. So haben viele sogenannte migrantische Jugendliche und junge Erwachsene, die antisemitische Positionen vertreten, in Deutschland Erfahrungen von Nichtzugehörigkeit gemacht und/oder stammen aus marginalisierten und damit in besonderer Weise diskriminierten und ausgeschlossenen Milieus und Familien. Es steckt also weit mehr als der Nahostkonflikt hinter ihren Frustrationen [6]. Damit sind zwei Erfahrungsräume skizziert, in denen Emotionen eine zentrale Rolle spielen und die Menschen zu falschen Antworten auf reales oder wahrgenommenes Leid oder auf reale oder wahrgenommene Ungerechtigkeiten verleiten können.

Der Gewinn ideologischer oder „populistischer“ Angebote unterschiedlichster Couleur liegt auf der Hand: Rassistische und antisemitische (aber genauso auch rechtsextreme oder islamistische) Weltdeutungen und Ideologien der Ungleichwertigkeit konstruieren ein Wir und bieten eine Projektionsfläche für Ressentiments, Wut oder Hass. Während das konstruierte Wir aus den Guten und Gleichen besteht, wird das Andere als Sündenbock und Blitzableiter zur Projektionsfläche instrumentalisiert. Sie versprechen Aufwertung, Zugehörigkeit und Anerkennung (Schmerzlinderung) durch die kollektive Bestätigung der individuell empfundenen Wut und die Abwertung anderer. Auf die Krisenwahrnehmung geben sie partikulare Antworten: „Du gehörst zu uns“ und „Uns soll es (wieder) gut gehen“ [7]. In diesen Angeboten (Erklärung der Misere, Projektionsfläche für eigene Emotionen, Lieferung einer einfachen Lösung) liegt der Gewinn für frustrierte, zum Beispiel antisemitisch auffällige Berliner palästinensische Jugendliche ebenso wie für frustrierte, zum Beispiel rassistisch und/oder antisemitisch auffällige junge ost- oder westdeutsche AfD-Sympathisant*innen. Die Wut über im Rahmen politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen persönlich erlebtes und zum Beispiel als Demütigung interpretiertes oder empfundenes Leid findet ihr Ventil im kollektiv geteilten Hass.

Im ersten Moment

Für Pädagogik und politische Bildung mag es nun gar nicht so relevant sein, die Ursachen von Gefühlen wie Frustration, Ohnmacht, Wut und Aggression, die hinter Provokationen oder ideologischen Positionierungen von Jugendlichen stehen können, genau zu kennen. Bei allen – hier nur am Beispiel von Neoliberalismus und Nahostkonflikt skizzierten – gesellschaftlichen Hintergründen sind diese Ursachen bei den Einzelnen dann doch sehr vielschichtig! Hinzu kommt, dass in den Biografien liegende, psychosoziale Aspekte wie familiäre Entfremdungs- oder (oft frühkindliche) traumatische Erfahrungen wesentlich dazu beitragen, dass extreme Positionen und Provokationen bis hin zu ideologischen Angeboten attraktiv (weil kompensatorisch wirkend) erscheinen können (vgl. Plha/Friedmann, 2019) [8].

Unabhängig von der jeweiligen individuellen Motivlage stehen Pädagog*innen hier vor einer ausgesprochen herausfordernden Aufgabe: Auf der einen Seite ist es vor dem Hintergrund ihrer Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde und zum Schutz angegriffener Jugendlicher vor Diskriminierungen geboten, rassistischen, antisemitischen und anderen abwertenden Positionen zum Beispiel im Unterricht deutlich entgegenzutreten (vgl. § 11 SGB VIII; Cremer, 2019). Auf der anderen Seite müssen sie – gerade um einzelne „problematische“ Jugendliche pädagogisch erreichen und gegebenenfalls irritieren zu können – die in ihren Positionen zum Ausdruck kommenden Emotionen aufgreifen und ins Gespräch bringen, womit sie in gewissem Maß Anerkennung und Würdigung finden.

In dieser Zwickmühle stehen Pädagog*innen unterschiedliche pädagogische und didaktische Instrumente und Haltungen zur Verfügung [9]. Entscheidend ist dabei oft der erste Moment, in dem sie konfrontiert sind mit „extremen“, provozierenden, abwertenden und antisozialen Positionierungen und Verhaltensformen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ihnen persönlich, pädagogisch und politisch womöglich größtes Unbehagen bereiten. Zur Entschleunigung hilft es in einer solchen Situation vielleicht, sich daran zu erinnern, dass diese Positionen (1.) unter spezifischen Bedingungen „geworden“ sind, (2.) die hinter ihnen stehenden Emotionen authentisch sind und sie (3.) meist auf reale und legitime, aber unbefriedigte Bedürfnisse hinweisen. Was heißt das im Einzelnen?

Wenn solche Positionen im Licht ihres Gewordenseins betrachtet werden, zielt das nicht – wie vielfach suggeriert – auf ihre Relativierung. Ziel der pädagogischen Arbeit bleibt stets, individuelle Verantwortung und Handlungsfähigkeit auch unter dem Eindruck schwieriger Verhältnisse zu vermitteln. Dabei kann auch die inhaltliche Konfrontation inklusive deutlicher Signale und gegebenenfalls Argumente der Abgrenzung Teil einer Reaktion im ersten Moment sein. Voraussetzung dafür, dass solche Signale, kognitiven Inhalte, Argumente und Methoden bei den Jugendlichen auch ankommen und andocken können, ist aber eine für die betreffende Person spürbare, mitfühlende oder zugewandte pädagogische Haltung. In ihr spiegelt sich die Kenntnis vom Gewordensein problematischer Positionen, das heißt, sie stellt in Rechnung, dass individuelle Erfahrungen und gesellschaftlich bedingte Verhältnisse zu diesen Positionen beigetragen haben, den Emotionen der Jugendlichen vorausgehen und ihren Überzeugungen zugrunde liegen. Verlangt wäre vor diesem Hintergrund „radikaler Respekt“, der allen Jugendlichen gleichermaßen gilt, auch wenn sie antisemitische, rassistische, rechtsradikale, sexistische, homophobe, islamistische, klassistische oder andere abwertende Positionen vertreten.

Je nach eigenen Biografien und Erfahrungen werden Pädagog*innen unterschiedlich sensibel auf sexistische, antisemitische, rassistische oder andere pauschale Abwertungen reagieren. Stets gilt jedoch die pädagogische Prämisse des Respekts gegenüber der Person, auch wenn sie inakzeptable Positionen und Verhaltensweisen an den Tag legt. Diese Positionen „ihrer Jugendlichen“ sollen Pädagog*innen konfrontieren, aber nie über sie hinweggehen oder Missachtung zum Ausdruck bringen. So sind Empörung und Belehrung (oft ergeht ein Ruf nach „Maßnahmen“) angesichts rassistischer oder antisemitischer Positionen zwar verständlich (und mögen im politischen Diskurs berechtigt sein), im pädagogischen Setting sind sie fehl am Platz, weil sie in der Regel überwältigend und kontraproduktiv (Trotzhaltung) wirken. Die Emotionen, die in Form problematischer Positionen zum Ausdruck kommen, sind „da“ – sie sind authentisch und können nicht ignoriert, sondern sollten gerade dann aufgegriffen werden, wenn die daraus abgeleiteten Positionen den eigenen Überzeugungen diametral gegenüberstehen und die Grenzen des Kontroversitätsgebots (Beutelsbacher Konsens) lange überschritten sind.
Leichter fällt „radikaler Respekt“ vielleicht auch, wenn deutlich wird, dass hinter den inakzeptablen und mitunter ideologisch legitimierten Positionen und Provokationen meist legitime Interessen und Bedarfe stehen, wie Wünsche nach Zugehörigkeit, Anerkennung und Selbstwirksamkeit. Hier geben die Ideologien (und die wütenden oder aggressiven Jugendlichen) falsche Antworten auf die richtigen Fragen. Wie ein Seismograf lassen auch AMR und AS das Ausmaß der hinter ihnen stehenden, in den konkreten Verhaltensformen aber meist nicht direkt in Erscheinung tretenden gesellschaftlichen Defizite erahnen. Darüber ließe sich im Anschluss reden.

Pädagogische Arbeit und politische Bildung dürfen Ideologien und ihren einfachen Weltdeutungen nicht das Feld überlassen, sondern müssen ihrerseits Fragen stellen und Räume zur Erarbeitung alternativer Antworten schaffen. Dabei muss Pädagogik beständig die Balance zwischen Respekt und Konfrontation halten: Sie muss Einzelne und Gruppen vor Diskriminierung schützen und im gleichen Zuge emotional gefärbte, provozierende und diskriminierende Positionierungen unaufgeregt und zugewandt zum Ausgangspunkt von Austausch und Reflexion machen, damit Aufnahmebereitschaft für alternative Deutungen entstehen und eine (möglichst) deliberative, auf Freiwilligkeit beruhende Wertevermittlung gelingen kann.

Emotionen können dabei als Chance betrachtet werden. So verweisen Wut und Aggression auf ihnen zugrunde liegende Erfahrungen und lassen Motivlagen erkennen, die hinter extremen Positionierungen stehen und die Anziehungskraft ideologischer Angebote wie Rassismus und Antisemitismus erklären können. Darüber hinaus können Emotionen, Gefühle und Stimmungen in Pädagogik und politischer Bildung ernst genommen, aufgegriffen und zum Ausgangspunkt gemacht werden, um aus ihnen handlungsleitende Perspektiven auf die Welt abzuleiten (Wie wollen wir leben?) [10]. Anders gesagt: Das Feld der Emotionen dürfen Pädagogik und politische Bildung erst recht nicht den Ideologien überlassen. Dabei behalten Wissen und Argumente ihren Platz [11]. Genauso wichtig sind aber – auch und gerade bei extrem provozierenden Positionen – offene Ohren und Herzen der politischen Bildner*innen und Pädagog*innen für „ihre“ Jugendlichen. Denn Bindung kommt vor Bildung.


Anmerkungen

[1] Der Artikel entstand im Rahmen des Infoshops Das Verhältnis von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus des Fachtags „Für Volk und Glaube?“ Die extreme Rechte und religiös begründeter Extremismus, der am 23. und 24. Mai 2019 von der BAG RelEx und der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus (BAG K+R) durchgeführt wurde.

[2] Hervorhebungen in den Zitaten durch den Autor. Die Formulierung von Horkheimer und Adorno bezieht sich auf den modernen Antisemitismus, nicht auf die Sonderform eines israelbezogenen Antisemitismus, lässt sich aber nach der Meinung des Autors übertragen. Auf nähere Erläuterungen und Definitionen von AS und AMR wird im Weiteren verzichtet.

[3] Als Hauptunterschiede von AMR und AS können skizziert werden:
1. Der moderne Antisemitismus wendet sich gegen Krisenerscheinungen im Kontext gesellschaftlicher Modernisierung, die in Jüd*innen personifiziert werden. Der antimuslimische Rassismus gibt sich hingegen selbst als modern, in Unterscheidung zu vermeintlich unaufgeklärten, zurückgebliebenen Muslim*innen.
2. Dabei wendet sich der AS gewissermaßen von unten nach oben: das Volk gegen die reichen, mächtigen Jüd*innen. Der AMR argumentiert von oben nach unten im Sinne der Verteidigung einer bedroht gesehenen Überlegenheit.
3. Vor dem Hintergrund der fixen Idee einer jüdischen Weltverschwörung mündet der eliminatorische Antisemitismus in eine Vernichtungsdrohung, während im Rassismus die anders Konstruierten in der Regel da bleiben sollen, wo sie hingehören (vgl. Müller, 2010).

[4] Das zeigen bildgebende Verfahren in den Neurowissenschaften (vgl. Bauer, 2011, S. 58).

[5] Vergleichbar sind vielleicht Stimmungen in Westeuropa in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund schneller Modernisierung, Wirtschaftskrisen und Weltkriegserfahrungen: Ein „Unbehagen in der Kultur“ diagnostizierte zum Beispiel Sigmund Freud (1930), und den „Untergang des Abendlandes“ redete Oswald Spengler (1922, 1923) herbei.

[6] Mehr Informationen zum israelbezogenen Antisemitismus finden sich bei Müller (2018).

[7] Alternative Antworten zielen dagegen nicht auf Partikularinteressen, sondern auf universelle Solidarität und Gerechtigkeit: „Allen soll es gut gehen.“ Erfahrungen aus der Praxis haben gezeigt, dass sich die Unterschiedlichkeit von partikularen und universellen Antworten auf ähnliche Krisenwahrnehmungen in der Schule gut thematisieren lässt.

[8] Auf weitere Hinwendungsmotive geht Michaela Glaser in ihrem Artikel in dieser Ausgabe der Ligante #2 ein.

[9] Beispiele: Protest, Provokation oder Propaganda? (ufuq.de, 2016); The Kids are alright (ufuq.de, 2018) Darauf kommt es an! Jugendarbeit für Menschenrechte und Demokratie (Cultures Interactive, 2019).

[10] Insbesondere gilt das angesichts der emotional aufgeladenen gesellschaftlichen Zukunftsfragen (vgl. Bude, 2016). Für eine weiterführende Auseinandersetzung wird Besand (2018) empfohlen.

[11] So wird spätestens in der kognitiven pädagogischen Bearbeitung zum Beispiel die Besonderheit spezifischer Phänomene, der jeweiligen Narrative und ihrer kritischen Reflexion zu berücksichtigen sein – also etwa zum Antisemitismus im Politikunterricht in der deutschen Migrationsgesellschaft, zu Rassismus und Sklaverei in „US-Narrativen“, zur Rolle von Kolonialismus und Befreiungskriegen im französischen Selbstverständnis oder in russischen Geschichtsbüchern zum Imperialismus in Zentralasien.


Literatur

Bauer, Joachim (2011). Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. München: Blessing.

Besand, Anja (2018). Lernen im Feld vermeintlicher Gewissheiten. Zur Reflexion von Emotionen in (schulischen) politischen Bildungsprozessen. Journal für Politische Bildung, Nr. 2, S. 10–13.

Bude, Heinz (2016). Das Gefühl der Welt: Über die Macht von Stimmungen. München: Hanser.

Cremer, Hendrik (2019). Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien?

Cultures Interactive (2019). Darauf kommt es an! Jugendarbeit für Menschenechte und Demokratie.

Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W. (1944). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer.

Müller, Jochen (2010). Die Islamophobie und was sie vom Antisemitismus unterscheidet.

Müller, Jochen (2018). Empörung wirkt nicht. Was tun gegen Antisemitismus (und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit)?

Plha, Winnie & Friedmann, Rebecca (2019). „In der Gruppe bin ich wer …“ Psychosoziale Aspekte von Radikalität und Extremismus.

Schaal, Gary, S. (2019). Benötigen wir eine demokratische Emotionspolitik? In: Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung: Emotionen in der politischen Bildung, 50(2), S. 4–11.

Shooman, Yasemine (2014). „… weil ihre Kultur so ist“. Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld: transcript.

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