Uneindeutigkeit und der Umgang mit Ambiguität: Orientierungen junger Heranwachsender mit und ohne Zuwanderungsgeschichte
19. Oktober 2015 | Diversität und Diskriminierung

Die Suche nach Identität und Orientierung spielt gerade im Jugendalter eine wichtige Rolle. Am Übergang zum Erwachsensein gilt es, sich gegenüber den Eltern und der Gesellschaft zu positionieren. Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan beschreibt die Herausforderungen, denen sich gerade Jugendliche mit Migrationsgeschichte zwischen den Erwartungen der Eltern und der Gesellschaft gegenüber sehen. Er beschreibt die oft entstehenden bikulturellen Selbstverständnisse auch als Chance, in einer zunehmend komplexeren und pluralistischen Gesellschaft zurecht zu kommen.

Die Litanei über den moralischen Verfall der Jugend ist so alt wie das Nachdenken über Moral und Generationen insgesamt: „Der Jugend von heute fehlt es an Anstand und Sitte; sie ist verroht und brutal; sie kennt kein Mitleid und keine Empathie mit den Schwächeren; sie hat keinen Respekt vor den Alten.“

Noch größer ist gegenwärtig die Empörung, wenn es sich dabei um Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte handelt, denn dann wird ungewollt ein archaisches und bedrohliches Bild, und zwar das des „fremden, unzivilisierten Ruhestörers“, wachgerufen.

Aber wir sollten Folgendes nicht vergessen: Die Phase der Jugend wird in allen Gesellschaften als eine höchst prekäre und gefährdete Phase wahrgenommen. Die Jugend ist ein Schwellenzustand, in dem gravierende physische (Pubertät) und psychische Umbrüche (aktive Identitätsentwicklung) stattfinden: Einerseits kann der Jugendliche den Schutz- und Schonraum des Kindes für seine Handlungen nicht mehr beanspruchen; andererseits hat er aber auch noch nicht die uneingeschränkten Möglichkeiten der Partizipation an der Lebenswelt des Erwachsenen.

Zugleich stehen Jugendliche in modernen Gesellschaften unter gesteigerten Entscheidungsoptionen und zugleich erhöhtem Entscheidungsdruck, das heißt, sie können und müssen heute mehr entscheiden denn je (Beck, 1986). Ihnen öffnen sich neue Chancen, aber ebenso auch neue Risiken. Dieser Anstieg von Gestaltungsmöglichkeiten bedeutet, dass Jugendliche immer mehr zu Entscheidungsträgern werden, gleichzeitig werden Kriterien für Entscheidungen immer subjektiver, weil traditionale oder standes- und herkunftsspezifische Vorgaben mehr und mehr ihre Verbindlichkeit einbüßen.

Fokussiert man den Blick auf Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, so wird deutlich, dass diese von diversen Belastungsmomenten betroffen sind. So ist beispielsweise zu erwarten – um beim Beispiel der türkeistämmigen Migrantengruppe zu bleiben –, dass türkische Migrantenfamilien bzw. türkeistämmige Jugendliche einem starken Akkulturationsstress und lebensweltlichen Verunsicherungen unterworfen sind. Sie haben in dieser Lebensphase mehrere Entwicklungsaufgaben zugleich zu bewältigen: Von ihrer frühen Sozialisation an beginnen Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, in mindestens zwei kulturellen Bezügen zu denken und sich zumindest geistig alternative Handlungsoptionen vorzustellen. Sie haben sich in der frühen Adoleszenz – zusätzlich zur allgemeinen Entwicklungsaufgabe, eine angemessene Identität und ein kohärentes Selbst zu entwickeln (personales Selbst) und ein soziales Selbst mit gemeinsamen Werten und Normen auszubilden – auch noch mit der Frage der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit auseinanderzusetzen und eine „ethnische Identität“ zu entwickeln. Ihre Identitätsbildung ist also von dieser dreifachen Spannung durchzogen.

Dies bedeutet einerseits große biographische Anforderungen, schafft andererseits für viele von ihnen auch ein größeres Erprobungsfeld gelingender Identität. Denn ethnische Identitäten entstehen in der Regel erst im Kontakt von Menschen unterschiedlicher Herkunft und dem Gefühl der Bedrohung eigener Identität (Phinney, 1998). Die ethnische Identität wird Zuwanderern vielfach erst in der Migrationssituation als eine zentrale Dimension ihrer Persönlichkeit bewusst.

Gerade Jugendliche, die in einem multikulturellen Kontext leben und die Mehrheitskultur womöglich als ablehnend, feindlich und diskriminierend erleben, sind stärker der Gefahr ausgesetzt, ein gebrochenes Selbstbild zu entwickeln, weil sie der Wertschätzung durch andere, die ein zentraler Mechanismus der Identitätsstabilisierung darstellt, nicht immer gewiss sind.

Psychologisch betrachtet sind kritische Distanz und reflexives Verhalten gegenüber Normen wichtige Momente der Identitätsentwicklung. Zuwanderer befinden sich oft in einer Position, in der sie sowohl zu eigenkulturellen als auch zu mehrheitskulturellen Normen eine kritische Distanz entwickeln müssen. Denn sie müssen einerseits über die Differenz zum Anderen die eigene Identität wahren, sich andererseits aber auch um Partizipation bemühen und das Fremde ein Stück weit übernehmen. In der Begegnung mit den Anforderungen und der „moralischen Ordnung“ der hiesigen Gesellschaft entdecken sie zu Recht kritikwürdige Aspekte der Herkunftsgesellschaft – einer Herkunftsgesellschaft, die sie oft nur noch über ihre Eltern und Großeltern kennen.

Diese Konstellation fördert die Fähigkeit zur Rollendistanz – ein wichtiger Aspekt gelingender Identität. Darüber hinaus sind sie in ihrem Alltag häufiger als Einheimische mit Situationen konfrontiert, in denen Ambiguitätstoleranz gefordert wird, weil eine Unvereinbarkeit von unterschiedlichen kulturellen Zielen und Anforderungen erkannt wird. Ambiguitätstoleranz ist in der Moderne eine enorm wichtige Ressource: Wir müssen heute viel häufiger mit Ambiguitäten, Widersprüchen, Unvereinbarkeiten, inkompatiblen Zielen und Erwartungen umgehen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.

Eine Zuwanderungsgeschichte ist insofern keine Defizit- oder Mangelsituation, sondern angesichts erhöhter Ambiguitätstoleranz eine potenzielle Stärke. Bikulturalität lässt sich daher auch als Ressource verstehen, die Personen bemächtigt, „in vielen Traditionen zu Hause“ zu sein und ein flexibles Selbst zu entwickeln, das dennoch unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden kann. Deshalb sind – gerade mit Blick auf Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte – die bisherigen Deutungsschemata, die das „Zwischen-Zwei-Stühlen-Stehen“ vornehmlich als eine Zerrissenheit, Belastung und Überforderung verstehen, zu revidieren: Diese Nicht-Festlegung der Identität in der Jugend kann entlang der Arbeiten von Marcia (1989) als eine durchaus angemessene Antwort auf heutige Anforderungen, sich in einer pluralen Gesellschaft multikulturell zu orientieren, betrachtet werden.

Marcia spricht von einer kulturell adaptiven Form der Identitätsdiffusion insbesondere in Zeiten rapiden ökonomischen und sozialen Wandels. Diese Deutung lässt sich auch auf die Identitätsentwürfe Jugendlicher anwenden: So kann es für einige von ihnen angesichts ungeklärter Bleibeperspektiven ihrer Eltern, ungeklärter Fragen zur Einbürgerung bzw. der doppelten Staatsbürgerschaft usw., also immer dort, wo gesellschaftliche Bedingungen Unverbindlichkeit und Indifferenz nahelegen, im Einzelfall auch hilfreich sein, sich etwa in seiner ethnischen Identität nicht ganz festzulegen bzw. sich andere Optionen offen zu halten sowie hybride Identitäten, etwa deutsch-türkisch oder deutsch-arabisch oder deutsch-italienisch etc. zu entwickeln.


Literatur

Beck, U. (1986). Die Risikogesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp.

Marcia, J. E. (1989). Identity Diffusion Differentiated. In M. A. Luszcz & T. Nettelbeck (Eds.), Psychological Development. Perspectives Across the Life-Span (pp. 289-295). North-Holland Amsterdam: Elsevier.

Phinney, J. S. (1998). Ethnic Identity in Adolescents and Adults. Review of Research. In P. Balls Organista, K. M. Chun & G. Marin (Eds.), Readings in Ethnic Psychology (pp. 73-100). London: Routledge.

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